EINE WELT IN NUANCEN VON GRAU
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Die Welt ist nicht schwarz-weiss, sie ist von grauen Bereichen durchzogen. Sonst gäbe es auf der einen Seite eine Welt der unerschütterlichen Gewissheiten und auf der anderen eine Welt, wo man sich ewig in endlosen Vermutungen verliert. In neuerer Zeit haben die grauen Zonen stark an Umfang zugenommen. Früher ehelichten Adlige keine Ziegenhirtinnen, die Eltern waren eine unantastbare Autorität, die Kinder schwiegen bei Tisch und die Kirche war die zentrale Säule der Existenz, ausserhalb welcher kein Heil erlangt werden konnte. In unseren Tagen heiraten Prinzen Bürgerliche, die Kinder mischen sich bei Tisch in die Diskussionen ein, Krippen erlauben landauf und landab, dass sich Mütter ihrer beruflichen Karriere widmen, und die Kirchen stehen leer.
Genauso ist es im Weinbau und in der Önologie: Während Jahrtausenden kultivierte man die Rebstöcke, schnitt sie jährlich zurück, brach Jung- und Neutriebe aus, entfernte das überschüssige Laub und «alles, was überstand». Man achtete auf Krankheitsbefall und hielt das Unkraut mit Herbiziden fern. Zu guter Letzt las man die Trauben und vergärte sie mit Naturhefen. Das Ergebnis war ein Getränk mit einem gewissen Gehalt an Alkohol, Säure (meist nicht allzu spärlich) und einem gewissen fruchtigen Geschmack. Man beschäftigte sich nicht lange mit der Komplexität eines Weins, seiner Abrundung oder seiner ausserordentlichen Fruchtfülle. Es gab keine Lagerweine, man machte Wein, um ihn sofort zu konsumieren. Er gehörte zur täglichen Ernährung der Bauern und Landwirte, die ihnen half, ihre beschwerlichen und entbehrungsreichen Arbeiten zu bewältigen.
Im Vergleich dazu hat sich heute die Beziehung zum Wein und seiner Herstellung gewaltig verändert! Heute pflanzt man keinen Rebstock, ohne zuerst eine detaillierte Analyse des Bodens erstellt zu haben, um eine perfekte Übereinstimmung zwischen Boden und Rebsorte zu erreichen. Der Wein soll den Charakter des Terroirs spiegeln, auf welchem die Trauben heranreifen. Das Klima spielt eine zentrale Rolle. Die sonnenreichen Lagen eigenen sich für Rebsorten der dritte Reifeperiode wie dem Cornalin oder der Humagne Rouge, während sie fatal sind für einen Pinot Noir, der frischere und schattigere Lagen braucht. Dank neuer Erziehungsmethoden am Draht fällt die Arbeit im Weinberg weniger beschwerlich aus, aber sie erfordert sorgfältige Planung und komplexe Überlegungen. Rücksicht auf die Umwelt ist unvermeidlich, also wird der Winzer entscheiden müssen, ob er das Gras im Weinberg stehen lässt. Er muss auch wissen, ob der Boden ausreichende Speicherkapazitäten hat, bevor er wässert. Der Termin für die Weinlese bereitet regelrechtes Kopfzerbrechen! Im Weinkeller haben die Önologen eine Vielzahl von Methoden der Weinbereitung entwickelt. Der Wein wird im Stahlfass ausgebaut, in Barriques oder im Fass aus Eichenholz mit einem Fassungsvermögen von Tausenden von Litern. Wie lange soll er ausgebaut werden? Welche Assemblagen? Welche Flaschenformen? Mit all diesen Fragen muss man sich auseinandersetzen, bevor der Wein auf den Tisch des Konsumenten kommt. Und schliesslich muss er diesem Konsumenten auch schmecken, der mehr und mehr zu einem anspruchsvollen Connaisseur geworden ist.
So ist das Leben: jede Menge Graunuancen, von hell bis dunkel. Und manchmal Rosa. «Die einzige Gewissheit ist, dass es keine Gewissheit gibt», sagte Plinius der Ältere im ersten Jahr unserer Zeitrechnung. Wie recht er hatte!